In vielen öffentlichen und privaten Filmarchiven schlummern unentdeckte Schätze, die historische Entwicklungen für die Nachwelt festhalten. Wir haben mit Helmfried Kober, Produktmanager bei der KEM Studiotechnik GmbH, über aktuelle Marktentwicklungen gesprochen und darüber, was bei der Arbeit mit Archivmaterial zu beachten ist.
Wissen Sie, wie viele KEM-Schneide- bzw. Sichtungstische aktuell weltweit im Einsatz sind?
Leider nein. Das hat den ganz einfachen Grund, dass es über die Jahre sehr viele Einzelanfertigungen und Modifizierungen von den KEM-Tischen gab, die teilweise heute noch im Umlauf sind, da sie meist von den Studios an kleinere Nischen-Produzenten weitergegeben wurden.
KEM hat das Flatbed-Editing in den USA populär gemacht, gerade an der Ostküste. Dort hat KEM ab den 1950er Jahren vielfach die bis dato in den USA weit verbreiteten Editing-Machines abgelöst, die den Film senkrecht abspielten und an denen man im Stehen gearbeitet hat.
Eine der spektakulärsten Geschichten, die mir aus dieser Zeit übermittelt wurden, war die Arbeit an dem „Woodstock“-Dokumentar- und Konzertfilm Ende der 60er, an dem damals mehrere berühmte Regisseure beteiligt waren und 100 Stunden Material vom Konzert mitbrachten.
Damals wurden dafür eine Reihe von Schneidetischen per Interlock miteinander verbunden, das war echtes technisches Neuland. Man muss sich mal den Raum vorstellen, in dem fünf oder sechs Schneidetische mit jeweils drei Pfaden synchron laufen. Die dreifache Oscar-Gewinnerin und Scorsese-Cutterin Thelma Schoonmaker schwärmt heute noch davon und ist eine echte Bewunderin der KEM-Tische bis heute geblieben.
In welchen Märkten ist derzeit die Nachfrage besonders hoch?
Aktuell wird sehr viel aus Europa angefragt. Die Ausschreibungen kommen aber erfahrungsgemäß in Wellen. Es gab eine Zeit, da hatten wir besonders viele Anfragen aus dem asiatischen Raum.
Die Filmarchive tauschen sich untereinander sehr rege über ihre Arbeit und Arbeitsmittel aus. Viele sind in Verbänden organisiert, ungefähr 1.200 dürften das insgesamt sein. Und dann gibt es noch einmal bestimmt genauso viele freie Archive. Es gibt nicht nur kulturell oder historisch dokumentierende Archive, es gibt auch viele unverzichtbare Archive von wissenschaftlichen Einrichtungen und Unternehmen.
Fotografischer Film hat noch immer Existenzberechtigung. Selbst SpaceX ist kürzlich dazu übergegangen die Raketenstarts wieder auf Filmmaterial zu drehen, angeblich weil dessen Dynamikumfang bei Highspeed-Aufnahmen einfach doch noch immer größer ist, als der von Digitalkameras.
Was ist bei der Bearbeitung von historischem Filmmaterial der besonders kritische Moment? Wobei kann es leicht zu Beschädigungen kommen?
Die Gefahren lauern dort, wo große Kräfte auf den Film wirken. Das Herausheben des Films aus der Dose ist vielleicht noch kein Problem, aber sobald das Filmband eingelegt wird, geht es los. Der Film wird ja von einem Motor aufgewickelt und auf der Abwickelseite gebremst. Das bedeutet es wird über diese Strecke eine enorme Zugkraft auf das Material ausgeübt. Hinzu kommen noch vermeidbare seitliche Krafteinwirkungen durch Umlenkungen, Führungen und Sensoren in der Filmbahn.
Im Archivbereich erschwerend hinzu kommt der Alterungsprozess: Jedes Filmmaterial schrumpft mit der Zeit. Je nach klimatischen Verhältnissen und sachgemäßer Lagerung mehr oder weniger. Außerdem schrumpfen die verschiedenen Trägerschichten noch auf unterschiedliche Weise. Die Emulsion kann sich vom Trägermaterial ablösen oder reißen. Und dann kommen noch chemische oder biologische Prozesse hinzu, die den Film quellen lassen oder austrocknen, schlimmstenfalls kann Essigsäure austreten und das sogenannte Vinegar-Syndrome kann so die ganze Rolle in der Filmdose zerstören.
Das kann richtig problematisch werden, vor allem wenn man bedenkt, dass die meisten Schneidetische in die Perforation des Filmes eingreifen. Ist der Film geschrumpft, kann die Perforation nicht mehr richtig aufgenommen werden. Er wird mit Gewalt auf die Rolle gezwängt. Dabei entstehen zunächst nur feine Haarrisse, aber der Zahn der Zeit…
Sie haben ja die Technik des KEM-Sichtungstisches (siehe Bilder oben) in einem aktuellen Entwicklungsprojekt vollständig überarbeitet. Wo setzt er bei den zuvor genannten Problemen an?
Jede Krafteinwirkung ist purer Stress für den Film, das ist ungefähr so, als ob wir ihn auf die Streckbank legen und foltern würden.
Wir haben uns für KEMview, unser Flaggschiff mit dieser Technologie, zunächst dazu entschlossen, den Film-Pfad so zu optimieren, dass für den Transport möglichst wenig Krafteinwirkung auf den Film einwirken muss.
Wir fassen den Film mit unseren neuen Tischen kaum mehr an, nur noch ganz dünn an den Außenkanten. Wir greifen nicht mehr in die Perforation ein, weder zum Antrieb noch passiv. Der Pfad wurde so optimiert, dass die für den Filmlauf nötige Krafteinwirkung nur noch der Gewichtskraft von drei 2-Euro-Münzen entspricht. Dabei läuft er nun fast schnurgerade durch seinen neuen Pfad an unseren kontaktlosen Sensoren vorbei. Um im Bild zu bleiben: Unser KEMview ist also eher eine Wellnessliege für den Film, statt einer Streckbank.
Unsere Technik benötigt auch keine klassische Antriebsrolle, keine Capstan- oder Andruckrolle. Der Film liegt nur auf den Drehtellern, fertig. Durch deren ausgeklügelte kybernetische Ansteuerung können mit KEMview nun wieder fast kontaktlos die guten Gleichlaufwerte gebräuchlicher Tische erreicht werden, die fast alle mit einer zentral angetriebenen Zahnrolle den Film eindringen und stur mit 24fps, also 0,46 Meter pro Sekunde, am Film zerrten, auch wenn die 24 Bilder durch eine Alters-Schrumpfung von 3% vielleicht in Wirklichkeit nur noch 0,445 Meter lang sind - Daher der Streckbank-Vergleich.
Wie lassen sich mit Hilfe der KEM-Geräte Schwachstellen der Filmrolle, wie etwa eine Schrumpfung erkennen?
Da der Film bei KEMview zur Schonung kontinuierlich statt schrittweise am Bildfenster vorbei gezogen wird, muss, um Motion Blur zu vermeiden, die Belichtungszeit der einzelnen Bilder bei etwa 40 Mikro-Sekunden liegen. Das schafft keine Kamera. Wir blitzen deshalb.
Bei uns lesen dazu sensible UV-Laser-Dioden die Perforation auch noch bei Blankfilm aus Polyester aus. Das steuert den Verschluss der Kamera und löst genau in diesem Zeitfenster den Projektionsblitz aus. Und dieses Perfosignal ist nach mehreren Entwicklungsschritten nun so präzise, das ein perfekt stehender Bildstand auch in höheren fps erreicht wird. Die Frequenz aus diesen Signalen ermöglicht es natürlich auch, den augenblicklichen Schrumpfungswert abzuleiten und on-the-fly zu korrigieren - und das alles berührungsfrei.
Schrumpfung ist nicht das einzige temporale System-Metadatum das der Tisch liefern kann. Es sind auch optionale Steckeinheiten mit weiteren Sensoren in Planung, die sich in den Filmpfad einfügen lassen.
Selbstredend lässt sich unser dynamisch erweitertes Bild als digitales Farbdifferenzsignal mit embedded Sound abgreifen und als HD-Proxie für jede spezielle Anwendung im jeweiligen Digitalworkflow transkodieren.
Unser wichtigstes Keyfeature ist aber, dass durch diese verlässliche adaptive Regelung jede gewünschte Wicklung bzw. Straffheit der Filmrolle hergestellt werden kann: Für Transport oder zur Scanvorbereitung straff, für die Einlagerung in der Dose eher eine lockerere Wicklung, damit der Film atmen kann und weniger Essigsäure entsteht.
Auf dem Tisch kann man dennoch völlig frei beschleunigen oder bremsen, er wickelt währenddessen quasi immer abwechselnd eine Lage Film auf eine Lage Luft, ohne den Film zusammen zu ziehen. Am Ende kann man die lockere Rolle mitsamt dem Teller abnehmen und sicher, wie von einer Kuchenplatte in die Filmdose kippen oder gleiten lassen. Natürlich kann man auch gebräuchliche Filmspulen auf den Tisch aufsetzen.
Was ist die Besonderheit des eingesetzten Motors?
Bei einem Antrieb müssen ja alle sich drehenden Teile gleichzeitig gegen ihre Massenträgheit beschleunigt werden. In gängigen Tischen wird meist ein zentraler Anker-Gleichstrommotor als Antrieb verwendet, der selbst schon ein großes Trägheitsmoment hat und dazu noch jede Menge Übersetzungen und Getriebe-Masse, die ebenfalls in Rotation gebracht werden muss.
In unseren neuen Tischen arbeiten wir deshalb mit trägheitsarmen, dünnen, tausendfach lamellierten und deswegen sehr Gleichlauf-stabilen Scheibenläufermotoren, für jeden der sechs Teller ein eigener, ohne Zwischengetriebe. Jedes dennoch im System übrig gebliebene Trägheitsmoment, wie z.B. das von der Filmrolle selbst, kann dann sehr gezielt durch die adaptierende Regelung überwunden werden.
Die Sichtungstische sind ja standardmäßig für 8/16/35 mm Film ausgelegt. Wie lassen sich Magnetfilmformate oder Sonderformate nachrüsten?
Wir haben erst einmal diese gebräuchlichsten Formate auf unseren kombinierten Filmtransport-Rollen zusammen gefasst. Dazu gibt es selbstverständlich einen 2. Rollensatz für 9,5/17,5/22/28 mm. Des Weiteren benötigt man nur noch formatspezifische Unterlegscheiben für die Teller.
Der Tisch ist auf alle gebräuchlichen SEP- und COM-Formate ausgelegt, wir müssen nur die entsprechenden Tonköpfe von COMMAG16 bis SEPMAG35 einstecken. Aber der Tisch ist so gestaltet, dass er sich leicht an weitere Formate anpassen ließe.
Und wie sieht es mit der Kompatibilität zu digitalen Schnittstellen aus?
Wir wollten mit dem Tisch erst einmal eine zukunftssichere kybernetische Grundlage zur Nachhaltigkeit des Filmschatzes schaffen und haben alle bisher gängigen mechanischen Elemente durch eine ausgeklügelte, digitale „Wellness“-Elektronik ersetzt.
Das war die größte Baustelle. Ist der Antrieb erst mal nachhaltig, können relativ leicht neue Sensoren integriert werden, wodurch sich anschließend in der Digitalwelt viele neue Möglichkeiten eröffnen. Die Entwicklungen in der Sensorik überschlagen sich gerade zu. Selbst die Kamera können wir relativ leicht austauschen, sollte dies eine digitale Kompatibilität oder Mode nötig machen.
Ziel war es, den KEMview so versatil und Workflow-unabhängig wie möglich zu machen, vor allem ohne Codec-Begrenzungen. Die Archive sollen also weiterhin ihren eigenen, etablierten digitalen Workflow nutzen und ausbauen, das digitale Material weiterverarbeiten und währenddessen das wertvolle analoge Material als Keimzelle oder Mutterpflanze pflegen und archivieren.
-AB
Bilder: Helmfried Kober, KEM Studiotechnik GmbH
Präsentation beim Innovationstag Mittelstand des BMWK
Die Neuentwicklung wird auch im Rahmen des Innovationstag Mittelstand des BMWK am 15. Juni 2023 in Berlin zu sehen sein.